Naturwissenschaften und Glaube: Robert Grosseteste, Roger Bacon und Johannes Buridan

Naturwissenschaften und Glaube: Robert Grosseteste, Roger Bacon und Johannes Buridan
Naturwissenschaften und Glaube: Robert Grosseteste, Roger Bacon und Johannes Buridan
 
Zum ersten gezielten Vermittler griechisch-arabischer Wissenschaft an das christlich-lateinische Mittelalter wurde der englische Scholastiker Adelard von Bath (* um 1090, ✝ nach 1160) durch lateinische Übersetzungen und durch die Kenntnisse der Muslime verarbeitende Schriften. Das hat dann eine rege Übersetzertätigkeit ausgelöst, die im Lauf des 12. Jahrhunderts sämtliche der arabischsprachigen Gelehrtenwelt bekannten griechischen und die wichtigsten arabischen Schriften auch in lateinischer Sprache zugänglich machte. In ungewöhnlich kurzer Zeit wurde so dem christlichen Abendland eine ungeheure Wissensfülle übermittelt, zu deren Anhäufung mehr als anderthalb Jahrtausende erforderlich gewesen waren.
 
Einen zweiten Schritt bildete die in unterschiedlicher Form erfolgende Verknüpfung dieses Wissens mit christlichen Glaubensvorstellungen. Hatte sich für die Integration platonischer »Naturwissenschaft« im 12. Jahrhundert vor allem die Domschule von Chartres verdient gemacht, so unternahmen erste Versuche einer vorerst selektiven Integration aristotelischer Lehren in die platonisch-augustinische Grundhaltung ebenfalls seit dem 12. Jahrhundert Dominicus Gundissalinus (* um 1110, ✝ um 1190) und der in Paris tätige Wilhelm von Auvergne (* um 1180, ✝ 1249). Vor allem den beiden Dominikanern Albertus Magnus und Thomas von Aquino ist die weitgehende Umformung der aristotelischen Naturwissenschaft zu einem »christlichen Aristotelismus« zu verdanken.
 
Schon 1210 war aber auf der Pariser Synode das öffentliche und private Lesen aller naturphilosophischen Schriften des Aristoteles und der Kommentare unter Androhung der Exkommunikation verboten worden. Dieses Verbot ist zwar 1255 aufgehoben worden, doch sind um diese Zeit die Schriften des Averroes, genannt der »Kommentator« (des Aristoteles), zugänglich geworden, die auf kirchlicher Seite auf Widerstand stießen: Der auch für den Unterricht verantwortliche Bischof Tempier von Paris verbot 1270 einzelne Sätze daraus und 1277 insgesamt 219 das Naturgeschehen determinierende oder Bibelaussagen direkt widersprechende Lehren von Aristoteles, Averroes und (1325 widerrufen) Thomas von Aquino. Dieses Verbot galt bald für ganz Europa nördlich der Alpen; Hochburg des Averroismus wurde daraufhin Padua.
 
Der Widerspruch zwischen Wissen und Glauben, der anfänglich durch diese Verbote, aber unbefriedigend gelöst wurde, mündete schließlich im philosophischen Empirismus und Nominalismus des 14. Jahrhunderts, denen Wilhelm von Ockham zum Durchbruch verhalf, sodass die Verbote nicht mehr nötig waren. Sie hatten aber bewirkt, dass das in ihnen zum Ausdruck kommende Prinzip der Allmacht Gottes, dem eigentlich jeglicher Determinismus widerspricht, als spezifisch theologisches Element der Naturwissenschaft bis tief in die Neuzeit erhalten blieb.
 
Der radikale Empirismus ging davon aus, dass die Grundvoraussetzungen der Naturphilosophie nur der Praxis entnommen werden und deshalb als bedingte oder hypothetische Feststellungen formuliert werden müssten, sodass auch die aus den bedingten Sätzen abgeleiteten und in ihnen beschriebenen Dinge nicht notwendig real sind, weil zwischen solchen Sätzen und der wirklichen Welt kein Zusammenhang besteht. Der in Paris wirkende Johannes Buridan (* um 1295, ✝ um 1358) hat diesen Standpunkt mit der nominalistischen Überzeugung verbunden, dass das nicht sinnlich Wahrnehmbare auch nicht wirklich ist, und mit der Vorstellung von Gottes Allmacht, woraufhin die rational abgeleiteten und beschriebenen Dinge nach Gottes freiem Willen durchaus in die Realität versetzt worden sein können. So muss er zugeben, »dass Gott fähig ist, andere Welten zu erschaffen« - aber er habe es natürlich nicht getan und werde es nicht tun, sagten dann der Glaube und Aristoteles. Der von ihm beeinflusste Nikolaus von Oresme (* 1320, ✝ 1382) hat solche Gedankengänge unter dem gegenüber rationalen Schlüssen normativen Argument der Allmacht Gottes noch weiter ausgedehnt. Er führte fast sämtliche Argumentationen an, die später ein Nikolaus Kopernikus und die Kopernikaner für ein heliozentrisches Weltbild vorbringen sollten - um dann aber durch die für uns völlig überraschende, auf strikten Aristotelismus reduzierte Schlussfolgerung wieder auf das aristotelische (geozentrische) Weltbild zurückzukommen.
 
Weniger Schwierigkeiten, Vernunft und Glauben zu vereinen, hatten die mehr augustinisch-neuplatonisch ausgerichteten Naturforscher, die im Sinne des Aristoteles auch zwischen erklärender »Physik« und beschreibender Mathematik unterscheiden konnten. Das Licht galt ihnen als Analogon der göttlichen Gnade und der Erleuchtung des menschlichen Geistes durch die göttliche Wahrheit. Die ersten bedeutenden Vertreter einer auf einer solchen Lichtmetaphysik beruhenden Naturwissenschaft und Optik waren Robert Grosseteste (* um 1175, ✝ 1253) und sein Schüler in Oxford, der Franziskaner Roger Bacon.
 
Ersterer entwickelte eine erste systematische Theorie der Erfahrungswissenschaft, die Bacon weiter verfeinerte. Drei wesentliche Aspekte kommen hierin zum Tragen, der zu Vermutungen über einen Kausalzusammenhang führende »induktive«, der bestätigende (das heißt häufig nur: empirisch beobachtende) »experimentelle« sowie - unter Einbringung des platonischen Elements - der mathematische. Allerdings könne die »Physik« nie die Sicherheit der beweisenden Mathematik erreichen, die für die Theorie gleich wichtig sei wie die allein die Gründe erfassende »Physik«. Da die Basis aber weiterhin die aristotelisch-neuplatonische Naturphilosophie war, blieben trotz aller Modernität natürlich auch die »experimentellen Ergebnisse« in deren Rahmen.
 
Die das Verhalten des sichtbaren Lichtes beschreibende mathematische Optik konnte daraufhin zu einer modern anmutenden Disziplin ausgeformt werden. Roger Bacon, der deutsche Dominikaner Dietrich von Freiberg (* um 1240, ✝ 1318/20) und andere Autoren übernahmen Grossetestes Theorie der Multiplikation der Species und trugen Wesentliches zur mathematischen Optik und Physiologie des Sehorgans Auge bei.
 
Prof. Dr. Fritz Krafft
 
 
Flasch, Kurt: Einführung in die Philosophie des Mittelalters. Darmstadt 31994.
 Lindberg, David C.: Von Babylon bis Bestiarium. Die Anfänge des abendländischen Wissens. Aus dem Amerikanischen. Stuttgart u. a. 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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